"Liquiditätslücke" bei Banken in Europa

Europas Banken haben ein gewaltiges Liquiditätsproblem. Das zeigt die Differenz zwischen den täglich fälligen Verbindlichkeiten gegenüber Kunden und den liquiden Mitteln der Banken auf deren Konten bei der Europäischen Zentralbank (EZB).

Das Problem der "Liquiditätslücke"

Um das Problem der "Liquiditätslücke" europäischer Banken zu verstehen, muss man die täglich fälligen Verbindlichkeiten gegenüber Kunden und die liquiden Mittel der Banken bei der Europäischen Zentralbank (EZB), also deren Kassenhaltung, betrachten.

In unserem als Teilreserve-System fungierenden Bankensystem ist es gewollt, dass die Banken nur eine so genannte Mindestreserve an Liquidität vorhalten. Sind die täglich fälligen Verbindlichkeiten größer als die Kassenhaltung bei der EZB, könnten Banken im Falle eines Falles die Einlagen ihrer Kunden nicht auszahlen.

Wollen also alle gleichzeitig an ihr Geld (ein so genannter Bank-Run), gäbe es ein Problem. Die Banken könnten die Anforderungen zur Bargeldauszahlung an ihre Kunden nicht erfüllen. Die Regierungen bzw. Zentralbanken müssten als Kreditgeber der letzten Instanz (siehe weiter unten) einspringen und die Banken mit der benötigten Menge an Bargeld ausstatten. Das ist auch so vorgesehen, denn die Banken könnten sich im Falle eines Falles bei der EZB gegen Sicherheiten mit Bargeld eindecken.

Unsere nachfolgende Statistik zeigt, wie sehr die Schere zwischen der Kassenhaltung der Banken bei der EZB und der Höhe der täglich fälligen Verbindlichkeiten gegenüber Kunden (Sichtguthaben auf Girokonten + Tagesgeldern) in den letzten Jahren aufgegangen ist.

Statistik zur Liquiditätslücke europäischer Banken

Wachstum der Lücke zwischen den täglich fälligen Verbindlichkeiten europäischer Banken gegenüber ihren Kunden und dem Kassenbestand der Institute bei der EZB:

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Quellen:

Entwicklung der "Liquiditätslücke"

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Wie die FED in den USA die Lücke geschlossen hat

Auch die USA hatten lange Zeit eine Teilreserve von etwa acht Prozent der täglich fälligen Einlagen, die sich bis 2008 auf ein Prozent verringerte. Seitdem hat die US-Notenbank Fed im Rahmen ihres Quantitative Easing Programms die Geldbasis (M0) so stark ausgeweitet, dass 2009 erstmals mehr als alle täglich fälligen Einlagen der Kunden von US-Banken (in unserer nachfolgenden Statistik durch die "Checkable Deposits" der Geldmenge M1 ausgewiesen) gedeckt waren. Bis März 2018 waren die US-Banken quasi gegen einen Bank-Run immun, denn sie hätten alle täglich fälligen Einlagen ihrer Kunden auszahlen können, ohne dass die Federal Reserve hätte einspringen müssen. Seit April 2018 entsteht eine neue Liquiditätslücke.

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Hinweis: Seit Februar 2021 gibt die Federal Reserve keine Daten zu den "Total Checkable Deposits" mehr aus, sondern ersetzt diese Zeitreihe durch die neue "Other liquid deposits".

Das Teilreserve-System

Die Mindestreserve als Steuerungselement

Fachkundige Leser werden sich natürlich bereits eingangs gefragt haben: wozu die Aufregung? Dass die Banken nur einen Teil der Einlagen ihrer Kunden als täglich verfügbaren Kassenbestand halten, ist hinlänglich bekannt. Das ganze nennt sich Teilreserve-System und besagt, dass eine Bank immer nur einen Teil der Kundenguthaben ihrer Banken als täglich verfügbare Reserve für tägliche Aufzahlungen bereithalten muss. Dieser Prozentsatz wird als Mindestreservesatz bezeichnet.

Vertrauen in den Bankensektor für Teilreserve-Systeme unabdingbar

Genau dieser Mindestreservesatz macht Teilreserve-Systeme anfällig für so genannte Bank-Runs. Sollten zu viele Kunden gleichzeitig ihr Geld bei der Bank abziehen oder abheben wollen, würde diese die Auszahlungen nicht mehr leisten können. Sie wäre zahlungsunfähig. Das Vertrauen in den Bankensektor und die einzelne Bank ist daher einer der wichtigsten Faktoren im Teilreserve-System.

Der Staat als Aufsichtsperson und Kreditgeber letzter Instanz

Um dieses Vertrauen sicherzustellen, müssen die Banken bei einem Teilreserve-System vom Staat beaufsichtigt und reguliert werden. In Deutschland übernehmen die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sowie für Großbanken seit 2014 die EZB die Rolle der Bankenaufsicht. Das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Banken wird zum einen durch eine gesetzlich garantierte Einlagensicherung und zum anderen durch die Rolle des Staates als Kreditgeber der letzten Instanz (Lender of last resort) sichergestellt. Im Falle eines Bank-Runs würde also der Staat bzw. die Zentralbank (in Europa die EZB, in den USA die Fed) einspringen und den Banken jede von ihnen benötigte Menge an Bargeld bereitstellen.

Wie der Bankensektor gegen einen Bank-Run immunisiert werden kann

Quantitative Easing Programm der EZB

Mit ihrem als Quantitative Easing bezeichneten Anleihekaufprogramm kann die EZB versuchen, diese "Liquiditätslücke" zu schließen und die Banken gegen einen Bank-Run zu immunisieren. Dazu kauft sie den Banken Staats- und neuerdings auch Unternehmensanleihen ab und bezahlt diese mit frisch geschaffenem Geld. Sie weitet also die Geldbasis (Geldmenge M0) aus. Wie wir in unserer Studie zu den Erfolgen von Quantitative Easing seit Jahr und Tag aufzeigen, tritt der nach außen kommunizierte Wunscheffekt einer Erhöhung des Volumens der Kreditvergabe der Banken an Verbraucher und Unternehmen nicht wirklich ein.

Die "Liquiditätslücke" hingegen könnte die EZB schließen. Dazu muss sie den Banken allerdings mehr Anleihen abkaufen, als die Sparer im selben Zeitraum neu in Form von Sicht- und Termineinlagen bei den Banken anlegen.

Sparverhalten der Verbraucher

Ein zweiter Weg zur Lösung des Liquiditätsproblems wäre die Änderung des Sparverhaltens der Verbraucher. Anstatt ihr Geld regelmäßig zu Niedrigzinsen zur Bank zu schaffen, sollten diese breiter streuen und auch Aktienfonds sowie ETFs kaufen. Damit schlagen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: Eine langfristig deutlich höhere Rendite (alleine von 2010 bis 2017 haben Sparer in Deutschland unserer Studie nach mehrere hundert Milliarden Euro an Rendite verschenkt) und die Schere zwischen Spareinlagen bei Banken und deren Kassenbestand bei der EZB würde sich schließen. Die Banken wären dadurch immuner gegen einen Bank-Run. Eine klassische Win-Win Situation für alle Teilnehmer.